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Mama Held

Jedes Kind verdient eine Familie, ganz ehrlich, wer würde Kerstin Held nicht zustimmen? Wir sind doch offen, wir sind doch tolerant und wir wollen doch integrieren. Theoretisch schon.

In der Realität nehmen die wenigsten Familien ein behindertes Pflegekind auf. Das ist nichts, was man kritisieren sollte. Die Hürden der Bürokratie sind riesig, die Ansprüche an die Eltern noch höher. Das Leben mit dem Kind wird auf keinen Fall einfach.

Kerstin Held hat sich über alles hinweg gesetzt und ihren Traum erfüllt. Heute ist sie Mutter von vier Pflegekindern mit Behinderungen und hatte schon acht weitere bei sich zuhause. 

Gibt es einen Notruf, ein Kind steht mal wieder ohne jemanden da, ist Mama Held sofort zur Stelle und gibt dem Kind mit viel Liebe und Aufmerksamkeit ein neues zuhause. 

In ihrem Buch fängt sie von Anfang an, das möchte ich hier auch machen. Kerstin wächst in einer schwierigen Familie auf, der alkoholkranke Vater verlässt die Familie, die Mutter ist überfordert mit der schwerbehinderten jüngeren Tochter. Die Verantwortung gibt sie an Kerstin ab, egal ob es um die tägliche Pflege oder den Haushalt geht. Das Verhältnis der Geschwister leidet darunter, Kerstin macht die jüngere Schwester für ihre Rolle als Hilfskraft verantwortlich. Erst Jahre später begreift sie, dass Silke nie darum gebeten hat, daraus entsteht eine tiefe Freundschaft zwischen den beiden und sie unternehmen viel gemeinsam.

Damit ist der Grundstein gelegt, in ihrem freiwilligen sozialen Jahr lernt Kerstin ihr erstes zukünftiges Pflegekind kennen und lieben, später möchte sie ihn in ihre Familie aufnehmen und stellt fest, dass es  dafür keine Möglichkeit gibt. Niemand fühlt sich zuständig, niemand vor ihr wollte ein behindertes Kind adoptieren. Sie fängt also an mit der Bürokratie zu kämpfen, und erreicht eine Menge. Wieviel, das könnt ihr selber nachlesen.

 

Keine Frage, Kerstin ist eine Frau, die man bewundern muss. Wenn jemand ein behindertes Kind hat, braucht er mehr Unterstützung als andere. Kerstin Held hat vier mehrfachbehinderte Kinder, ist Vorsitzende des Bundesverbandes behinderte Pflegekinder, leitet selbstständig ihr eigenes Pflegeteam für die "Helden WG" und arbeitet als selbstständige Beraterin für die Ausstattung von Familien mit den neusten Techniken für behinderte Kinder. Außerdem reist sie regelmäßig nach Berlin um die Politik daran zu erinnern, dass sie niemals aufgeben wird, wäscht 16 kg Wäsche jeden Tag und streitet sich mit den Krankenkassen und Ämtern über die nötigen finanziellen Mittel für die Versorgung der Kinder. Ihr Tag endet gegen Mitternacht, er beginnt um 6 Uhr morgens. In der Nacht schläft sie nie richtig tief, der Pflegedienst mit seinen Geräuschen und die Versorgung der Kinder, die immer irgendwelche Unregelmäßigkeiten zeigt, verhindern das. Gekocht wird auch von ihr, natürlich so wie die Kinder es brauchen und wollen, und auch das Helden Team aus acht Pflegekräften wird mit versorgt.

Jetzt fühlt ihr euch klein, unbedeutend und habt kein Selbstbewusstsein mehr? Tja, dann geht es euch wie mir.

Zu diesem unglaublichen Alltag gibt es aber auch eine unglaubliche Biografie. Der süchtige Vater, das schwierige Verhältnis zur Mutter, eine schwerbehinderte Schwester, eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, ein sexueller Übergriff im Jugendalter und später war sie als Eventmanagerin tätig für Michael Jackson. 

 

Ganz ehrlich, diese Frau erlebt in einem Jahr mehr, als manche in ihrem ganzen Leben. So viel Drama, aber auch so viel Glück.

Mehrmals habe ich gedacht, das kann ja gar nicht stimmen alles. Das hält niemand durch, das schafft man einfach nicht. Aber es gibt sogar Videos und Fotos, alles ist echt. 

Genauso echt ist auch der Schreibstil, immer wieder hat er mich zum lächeln gebracht. Kerstin ist in Dortmund geboren und damit direkt in meiner Nähe aufgewachsen.Die Sprache klingt genauso, "als" und "wie" tauschen öfter mal den Platz, auch der Dialekt kommt öfter mal durch. Anstatt sich zu bemühen es zu entfernen und in möglichst sterilem Hochdeutsch zu schreiben macht der Stil jetzt einen ganz besonderen Teil des Charmes aus.

In dem Buch ist viel drin, aber eine Sache fehlt mir. Kerstin Held schreibt auch über Unsicherheiten die sie hat, aber immer nur, wenn andere Eltern ihr "hilfreiche" Tipps geben oder sie beschuldigen, nur das Pflegegeld der Kinder zu wollen. Die ganz normalen Sorgen einer Mutter scheinen keinen Platz zu haben. Stress mit einem Kind, vielleicht keine endlose Geduld beim essen, baden etc. Jeder hat gute und schlechte Tage und auch Eltern sind nur Menschen. Eigentlich.

Kerstin Held scheint sich über alles hinweg zu setzen, diese normalen Probleme gibt es in ihrem Alltag nicht. Sie möchte den Tag immer mit einem Lächeln beenden? Kein Problem, jedes Kind wird wieder froh. Es wirkt, als könnte jedes Problem gelöst werden und Deutschland hätte die eine Mutter gefunden, die alles perfekt schafft. 

Ich habe allerdings mal gerechnet und komme zu dem Ergebnis, dass sich im Moment neun Erwachsene fast alle komplett in Vollzeit um fünf Kinder kümmern. Schwerbehinderte Kinder, ja. Aber ich finde, diese Sicht der Dinge malt ein ganz anderes Bild, als es eigentlich vermittelt wird. Wir haben keine perfekte Mutter mehr, die neben der Kinderpflege wie selbstverständlich arbeiten geht und einen Bundesverband leitet, dazwischen kurz den Haushalt macht und garantiert nie müde ist, sondern eine ganz normale Frau.

 

Um es mal auf den Punkt zu bringen, diese Buch hat mir noch Stoff für viele Gedanken geliefert. Alles ist wahr was Kerstin Held schreibt, aber ich glaube, dass einiges keinen Platz mehr gefunden hat. Diese Lücken erwecken den Anschein einer perfekten Frau und nicht einer Mama, die sich mit viel Herz und viel Unterstützung von anderen, so gut sie es kann, für die Kinder einsetzt, denen sie ein zuhause gibt. 

 

Eine Empfehlung von mir, bei der Recherche für meine Rezension bin ich auf einige Videos und Filme aus dem Alltag der Helden - WG gestoßen und habe einen weiteren Blick in die Familie bekommen. Man sieht ganz klar wie groß die Leistungen sind, die das Pflegeteam leistet und auch die Unterstützung von anderen ist sehr groß. Kerstin Held fährt nach Berlin? Wie schön, die Pflegetochter darf auch mit. So entsteht ein Alltag, in dem wirkliche Inklusion, ohne darüber nachzudenken, möglich ist.

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